Story

Die Kartoffel

Das wohl einfachste und beste Grundprodukt der Schweiz

Die Sonne brennt vom Himmel, während Marcel Heinrich den Spitzenkoch Andreas Caminada auf eine Tour durch seine Kartoffelfelder nimmt. Mit wachem Auge läuft er durch seine Felder und schaut sich die Pflanzen prüfend an: Gibt es Fäule? Hat ein Schädling die Pflanze befallen?
Dann müsste er sofort reagieren, damit die Pflanze gesund bleibt und die Knolle bis zur Ernte die geballte Kraft der Erde aufnehmen kann – erst recht, wenn es tagelang regnet, denn dann bilden sich bei Staunässe böse Pilze.

Seine Hände fahren über die Pflanzen, als wären es die lockigen Köpfe seiner Töchter Ladina-Madlaina, Laura-Bignia und Andrina- Seraina. Schnell muss er schmunzeln und sagt: «Wenn ich abends nach Hause komme, gehe ich oft erst aufs Feld und schaue, wie es meinen Kartoffelpflanzen geht, bevor ich zu meiner lieben Frau Sabina ins Haus gehe.» Zu einer qualitativ guten Kartoffel muss man so gut schauen wie zu einem Kind.

Hier oben im Albulatal, etwas über 1000 Meter über Meer, herrscht das perfekte Klima für beste Kartoffeln. Auf dieser Höhe ist es auch im Sommer «frisch» genug, als dass sich die Krautfäule ausbreiten würde. Die Böden sind sandig und gut besonnt, und Marcel Heinrichs gut 1,5 Hektaren Kartoffelfelder sind so gelegen, dass er sie gut bewässern kann. Er greift mit seinen kräftigen Händen – von Wind und Wetter gezeichnet – in die Erde. «Der Boden hier oben ist sehr steinig. Die Steine speichern nicht nur die Wärme, sondern liefern auch wichtige Mineralstoffe.» Interessant, was die Natur hier kreiert hat. Mit den Steinen hat Marcel Heinrich quasi eine natürliche Bodenheizung, die im Sommer auch bei Kälteeinbrüchen dafür sorgt, dass seine Kartoffeln wohlig im Boden liegen. Während anderen Bauern an letzten, kalten Sommertagen die Ware im Boden verfror, hielten die Steine seine Knollen schön temperiert. Mit ihren Mineralstoffen machen sie die Kartoffel nicht nur gesund, sondern auch aromatisch. «Einzig die Ernte ist wegen der Steine Knochenarbeit.» Heinrichs sonst helle Stirn legt sich kurz in Falten. «Die Steine in den Böden sind zu gross, das passt in keine Maschine.» Also werden auf dem Hof La Sorts in tagelanger Handarbeit «Kartoffeln gelesen» – eine Strapaze für Finger und Kreuz gleichermassen.

«Sind das jetzt die Corne de Gatte?», sagt da der Spitzenkoch Andreas Caminada fast schon mit platzender Neugierde, während Heinrich eine Kartoffelpflanze aus dem Boden zieht. Nein, eine Parli ist es, die rotschalige «chnorzige» Knolle, die mit ihrem Aroma an Artischocken erinnert und sich perfekt für Capuns eignet. «Schau, hat sie ein «Tüpfli» in den Augen oder Einwachsungen, ist sie nicht gesund.» Diese ist es aber, und drum kann Heinrich getrost weiter durchs Feld laufen. In den mineralgeschwängerten Böden zeigt er Andreas Caminada die Reihen, in denen die «Rösseler» (perfekt für Gnocchi) gedeihen, und ein paar Meter weiter die «Blauen Zimmerli» (eine köstliche Röstikartoffel). Es wird schnell klar, dass die beiden mehr verbindet als die gesunde Gesichtsfarbe, für die das viele Licht im Tal sorgt.

Beide sind davon getrieben, immer wieder nach Neuem zu streben. So serviert Caminada seit Anfang Jahr ausgewählte Gerichte mithilfe von Lichtkunst. Auf einem «Lightplate» spielt dort ein grasgrüner Lichtteppich, während Bündnerfleisch-Parfait, Kalbsschwanz-Gelée und Gersten Vinaigrette serviert werden. Es ist sein kulinarisches Maiensäss, und Caminada will damit Genuss mit allen Sinnen präsentieren. Dafür nimmt er all das, was ihm seine Heimat Kostbares gibt, und vereint es in seinen Gerichten: die gute Prättigauer Butter, die Forellen und Bergkartoffeln – währschaft, erdig und trotz Gourmettempel bodenständig. Seine Gerichte schmecken so, wie sich der Ort hier oben anfühlt. Mit der Präsentation auf einem Light-Plate schaut er damit trotzdem über den Tellerrand hinaus.

«Wenn du so weit hinten in einem Tal bist, musst du innovativ bleiben», bringt es Heinrich auf den Punkt. Bei ihm sind es die Sorten, die eben «nicht jeder anbaut». Und so können sich Zürcher mit feinem Gaumen die Kartoffeln vom Lager in Feusisberg mit dem Kartoffeltaxi in die Stadt liefern lassen – ein Mitfahrdienst für Kartoffeln quasi, bei dem Pendler aus der Agglomeration die Knollen in die Stadt fahren.

Auch wenn die Berge hier den Weg zum Horizont verstellen, sind beide sehr weitsichtig. Sie wissen, man muss immer dranbleiben, wenn das Produkt seine Wertigkeit nicht verlieren soll. Nicht nur die Natur, sondern auch die Bedürfnisse des Kunden müssen sie spüren, dabei aber die Herkunft nie aus den Augen verlieren.

Das Wichtigste aber sind das Geerdete – sprichwörtlich, denn Kartoffeln anpflanzen ist eine Knochenarbeit, die der ganzen Familie Heinrich viel Arbeit und Geduld abverlangt – und ein besonderes Feingefühl für den Boden, den die Natur voraussetzt.

Wer alte Sorten wie die blauen Schweden, Guarda oder die violett-weiss gemaserte Vitelotte noire anpflanzt, muss vielleicht zudem ein bisschen verrückt sein. Da muss auch Caminada
schmunzeln. «Man will schliesslich nicht so sein wie alle anderen, man probiert doch, einen eigenen Weg zu finden.» Stur kann man es nennen. Oder fokussiert. Ein typischer Bündner halt. Sie haben das grosse Talent, sich auf das zu besinnen, was sie hier oben haben, und sind ganz stark damit verwurzelt. Wenn man inmitten dieser Natur lebt, wenn der Geist nicht ständig vom Papperlapapp der Stadt gestört wird, fällt der Fokus wohl automatisch auf das, was ist.

Man muss den Ursprung kennen, denn wenn sich etwas Traditionelles weiterentwickeln soll, darf es nichts an Herkunft verlieren, um stimmig und echt zu bleiben. Das Saatgut, die Aromen und Sorten dürfen nichts an Ursprung verlieren, das ist Heinrichs grosser Schatz. Im Wissen darum wächst hier sein «Bodengold». Reich wird er darob trotzdem nicht, und auch für den Kunden hat diese Qualität seinen Preis. Je nach Sorte schlägt das Kilogramm mit zwölf Franken zu Buche, hat dabei aber auch seine Wertigkeit. «Es kommen sogar alte Menschen aus dem Tal zu uns auf den Hof und kaufen mit ihrer AHV einen Sack Parli. Sie sagen dann, meine Kartoffeln schmecken wieder wie damals, als sie noch Kinder waren.» Quasi ein Gütesiegel! Es rührt den kräftigen Bauern sichtlich, dass seine Kartoffeln für viele ein Stück kulinarische Heimat sind.

Obwohl Caminada und Heinrich gerade einmal 25 Kilometer voneinander entfernt sind, war es Zufall, dass sie zueinandergefunden haben. Oder war es doch eine
göttliche Fügung, als Andreas Caminada vor einigen Jahren in der Zeitung zu Protokoll gab, er würde gern noch mehr mit lokalen Produzenten zusammenarbeiten? Der Rest ist Geschichte bzw. lässt sich auf der Menükarte nachlesen. «Die Gnocchi machen wir auf Schloss Schauenstein nur mit den Rösseler. Sie sind schön mehlig und binden alles perfekt.» Kein Wunder, denn Bergkartoffeln haben einen geringeren Wasseranteil und sind als Biokartoffeln nicht stickstoffgetrieben. Und auch für den Kartoffelstock und eine schöne Kartoffel-Crème-brûlée bedient sich Caminada Heinrichs Kartoffeln. Man stärkt und schätzt so das gegenseitige Schaffen. Jeder will es für den anderen richtig gut machen. Und man ist sich hier so nah, dass Caminada heute höchstpersönlich eine Ladung Salsiz vom Bauernhof mitnimmt, die er in seiner «Remisa» seinen Gästen serviert. Und natürlich die Kartoffeln.

Auf dem Hof La Sorts (rätoromanisch für «Los» oder «Schicksal») neigt sich die Sonne langsam dem Horizont entgegen. Die Entenmutter spaziert mit ihren Kleinen im Schlepptau «patschifig», wie man es hier oben nennt, an ein geschütztes Plätzchen auf der Wiese, wo sie ihre Küken schützend unter ihren Flügel nimmt. Marcel Heinrich besinnt sich kurz. «Das Wichtigste ist, dass die Pflanze nie gestresst ist.» Er sagt das mit einer Fürsorge, als würde er über seine Töchter reden. Und genau wie bei Kindern muss man auch dem Boden Sorge tragen und für ein gesundes Wachstum Geduld aufbringen. «Alle vier Jahre wechseln wir das Feld. Der Boden soll sich gut erholen können, bis er seine volle Kraft wieder an die neuen Pflanzen abgeben kann.»

Wenn vielerorts von «Farm to Table» («vom Bauernhof auf den Tisch») gesprochen wird, zeigen Marcel Heinrich und Andreas Caminada, wie es aussieht, wenn man einen Schritt weitergeht: «Soil to Table» – von der Erde auf den Tisch. So funktioniert es, wenn bis zum letzten Punkt nachhaltig produziert wird, denn nur, wenn auch der Boden gesund ist und in seinem eigenen Tempo seine kostbare Kraft in die Pflanzen stecken kann, wird der ganze Kreislauf von Natur und Mensch geschlossen. Und damit bleibt auf dem Hof La Sorts die Kartoffel das, was sie ist: reinstes Bodengold!

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