Story

Silvio Germann

Guter Geschmack braucht Zeit und Geduld.

Um 14 Uhr an diesem Samstag ist es noch ruhig im IGNIV. Die Tische im Speiseraum sind nicht gedeckt, und in der menschenleeren Küche hört man nur das monotone Summen der Kühlschränke. Glasplatten, Etagèren und andere Gefässe stehen zwar schon fein säuberlich aufgereiht auf den sauber geputzten Arbeitsflächen bereit, aber gefüllt werden sie erst in ein paar Stunden.

Silvio Germann wirkt auch deshalb ruhig und entspannt. Der sympathische Luzerner ist verantwortlich für die kulinarischen Geschicke des ersten IGNIV-Restaurants, das Andreas Caminada Ende 2015 im luxuriösen, weitläufigen Grand Resort Bad Ragaz eröffnet hat. Das Konzept, bei dem die Gerichte zum Teilen für alle auf den Tisch kommen, machte Furore in der Schweizer Feinschmeckerwelt.

Der GaultMillau Schweiz ernannte Germann zur «Entdeckung des Jahres», sein Kollege und Restaurantleiter Francesco Benvenuto erhielt den Titel «Sommelier des Jahres» und bereits wird das besondere Lokal mit hervorragenden 17 Punkten im einflussreichen Restaurantführer bewertet. Für Silvio Germann war das alles eine schöne, rasante Reise, und nachdem sich die Anfangseuphorie etwas gelegt hat, gilt es nun zu beweisen, was das IGNIV kann. Für den Koch eine gute Ausgangslage: «Wir können wachsen und lernen, aber wir können nichts verlieren», sagt er.

Seine Küche habe sich seit den Anfängen natürlich verändert. Zum einen lässt ihm sein Chef Andreas Caminada viel Spielraum, das Konzept weiterzuentwickeln. Und zum andern hat er gelernt, was bei einem Sharing-Menü funktioniert und was nicht. «Man muss darauf achten, dass jeder Teil eines Gerichts gleich gut schmeckt», erklärt er. Wenn jeder etwas von einer Platte nehme, brauche es zum Beispiel die richtige Menge Sauce für die gleichmässige Verteilung der Aromen. Und nicht alles eignet sich natürlich zum Teilen. Konfiertes Eigelb etwa würde Germann nicht servieren, da es beim Schöpfen aufplatzen und auslaufen könnte.

Er koche mittlerweile leichter, sagt er. Wer im IGNIV by Andreas Caminada ein 3-Gang-Menü bestellt, bekommt immerhin rund 20 verschiedene Dinge aufgetischt, da dürfe die grosse Summe der einzelnen Elemente nicht zu schwer werden. Mit verschiedenen Säurequellen wie Limetten- und Zitronensaft oder Balsamessig sorgt Germann zudem für Frische und Leichtigkeit. «Mein Weg ist eine einfache Küche, bei der drei Komponenten in einem Gericht eigentlich genügen müssen», sagt er. Gleichzeitig komme er aus der Schule Caminadas: Das soll man sehen und schmecken durch oft einfache, bekannte aber mit Raffinement behandelte Zutaten. Und vor allem: durch den Geschmack.

Was aber macht guten Geschmack in einer Küche aus? «Erstens braucht man Zeit und Geduld, um beispielsweise eine Sauce sorgfältig aufzubauen», antwortet Silvio Germann. Dann sei die Dosierung der einzelnen Zutaten entscheidend, manchmal brauche es gezielt etwas Süsse oder dann etwas Säure, manchmal sei Butter die richtige Lösung. «Es ist eine Frage der Erfahrung», sagt der Koch. Das Gespür für eine Speise werde besser, je länger man daran arbeite.

Geduld falle ihm allerdings nicht immer leicht, gibt er zu. Kürzlich hatte er eine Idee, bei der Gerste eine Rolle spielte, aber das Korn braucht Zeit, um im Wasser zu quellen. «Bloss, wenn ich eine Idee im Kopf habe, möchte ich eigentlich sofort wissen, wie sie in der Realität schmeckt», sagt Germann. Auch wenn er im persönlichen Umgang ein ruhiger, geduldiger Zeitgenosse ist, bei der Umsetzung von Ideen kann es ihm nicht schnell genug gehen. Aber er arbeite daran, es werde besser, sagt er optimistisch. In seiner Freizeit spielt er seit kurzem Golf, «vielleicht hilft das ja, mich in Geduld zu üben», sagt Germann lachend. Der Sport sei wie ein gutes Gericht, es brauche Zeit. Unter zwei, drei Stunden spielt man keine Runde. Aber er schätze diese Momente in der Bündner Natur, in denen man zwingend den Kopf frei machen müsse. Er habe schnell gelernt, dass Golf vor allem mental herausfordernd sei.

 

Germann zeigt uns nun, wie Geduld und guter Geschmack zusammenkommen: Wenn er zum Beispiel eine Art Saiblings-Sandwich zubereitet, werden die Süsswasserfische erst säuberlich filetiert, und dann mit einer Spinatmasse bestrichen. Nun werden sie in Frischhaltefolie eingerollt und in Säure gegart wie bei einer Escabeche. Vollendet wird Germanns Schweizer Ceviche mit einer Kartoffelvinaigrette, Gurken und Radieschen.

In Germanns Küche ist mittlerweile Leben eingekehrt, die beiden Kolleginnen in der Patisserie bereiten sich für den Abend vor, im Radio läuft passenderweise «Sweet Dreams (are made of this)» von den Eurhytmics und der Chef erklärt, wie die IGNIV-Küche funktioniert. Für das Sharing-Konzept braucht es nämlich andere Abläufe als in einer durchschnittlichen Restaurantküche. Die Vorspeise besteht zum Beispiel aus vier, fünf verschiedenen Gerichten, die gleichzeitig auf den Tisch kommen. Damit nicht ein Koch total überlastet ist, sind immer drei oder vier Kollegen gleichzeitig daran beteiligt. Normalerweise werden von einem Posten (kalte Gerichte, Beilagen und Gemüse, Fleisch und Fisch, Desserts) immer nur einzelne Gerichte geschickt.

Aber auch für den Service bedeutet die «Teilete» am Tisch, dass sehr koordiniert gearbeitet werden muss, um die Gerichte schnell vor dem Gast aufbauen zu können. Mittlerweile ist die zehnköpfige IGNIV-Mannschaft eingespielt: Jeder weiss, wo der andere steht, und was er selbst wann zu tun hat. Das Feedback der Gäste ist entsprechend euphorisch, und der Chef leitet es umgehend an sein Team weiter. «Es ist wichtig, dass meine Leute ein Gespür für die Gäste entwickeln», findet er.

Nicht immer herrscht allerdings eitel Sonnenschein, kürzlich musste sich Germann von einem Kunden eine ziemliche Standpauke anhören. Das vegetarische Menü hatte nicht den Vorstellungen des kritischen Gasts entsprochen. «Am Anfang meiner Berufslaufbahn hat mich Kritik eine Woche lang kaum schlafen lassen», erzählt Germann. Heute könne er sie gelassener entgegennehmen und auch daraus lernen. «Nach dem Service stehen wir im Team immer noch kurz zusammen und besprechen den Abend, diskutieren neue Ideen oder eben das Feedback der Gäste.»

Zurzeit beschäftigt sich Silvio Germann mit einer Erweiterung des Restaurants, die sich auch auf das kulinarische Angebot auswirkt: Während der «Bad RagARTz» im Sommer, der weltweit beachteten Skulpturenschau, wird im Garten ein riesiges, von einem Künstler entworfenes Nest stehen. Das rätoromanische Igniv bedeutet auf Deutsch (Vogel-)Nest. Die begehbare Skulptur wird mit einer mobilen Küche von V-ZUG ausgerüstet und mittags sollen dort Kleinigkeiten serviert werden.

Silvio Germann füllt zum Beispiel ein geräuchertes Salatblatt mit in Apfelbalsam marinierten Rotkohl und belegt ihn mit geschmortem Pouletschenkelfleisch und Barbecue-Sauce. Zander mit Erbsen, einem Kräutersüppchen und frischem Bärlauch oder Spare Rips sind weitere kleine Gerichte, die er für den besonderen Anlass entwickelt hat. «Was ich koche, muss ich selber gern haben», sagt er über seinen wichtigsten, einfachen Küchen-Grundsatz.

Silvio Germann hat offensichtlich Freude am Kochen, und wenn er sagt, dass dieses Handwerk so viele, fast endlose Möglichkeiten biete, kann man sich darauf verlassen, dass der talentierte Küchenchef, die richtigen Möglichkeiten herausfiltert, um damit auch seinen Gästen Freude zu bereiten.

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